Die Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder

 Johann Heinrich Wichern gründet das „Rauhe Haus“

Text: Detlev Herbst

Zunehmende Kinderarmut, wie wir sie seit etlichen Jahren vermehrt feststellen müssen, ist kein spezielles Phänomen unserer heutigen, maßgeblich von der Globalisierung bestimmten Wirtschaftsordnung. In Zeiten des Umbruchs wie dem Beginn der Industrialisierung Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verschlechterten sich besonders in den größeren Städten die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der ärmeren Bevölkerungsschichten.

Infolge dieser Entwicklung lösten sich  die traditionellen Strukturen der Großfamilie allmählich auf. Zahlreiche Kinder und Jugendliche verließen ihre Elternhäuser und trieben sich obdachlos auf den Straßen in Stadt und Land herum.

Vor allem Geistliche und Lehrer erkannten die  sich immer weiter ausbreitende  Verwahrlosung und Gefährdung dieser Kinder und Jugendlichen  und  nahmen sich ihrer an. In diese Zeit fielen die ersten Gründungen so genannter Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder und Jugendliche. In diesen Rettungsanstalten sollte „[…] durch die erlösende Kraft des Evangeliums und  der Erziehung zur Frömmigkeit und Fleiß und zum Gehorsam den Pflegeltern gegenüber erzogen werden“ und den betroffenen  Kindern geholfen werden. Neben J. von Falke in Weimar und Zeller in Bingen ist vor allem der evangelische Theologe Johann Hinrich Wichern als Begründer des noch heute bestehenden Rauhen Hauses in Hamburg zu nennen, das sicherlich eine gewisse Vorbildsfunktion  für die Rettungsanstalt in Volpriehausen hatte.

Johann Hinrich Wichern (1808 – 1881) lernte die Armut und Not in den Armenvierteln der Hamburger Vorstädte als Sonntagsschullehrer kennen. Die Menschen – besonders die Kinder – lebten dort unter schlimmsten sozialen und hygienischen Bedingungen. Wichern sah es als seine religiöse und moralische Pflicht an, diese Kinder aus ihrer seelischen und sozialen Verwahrlosung zu befreien und ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen.

In das 1833 von ihm gegründete „Rettungsdorf“ „Das Rauhe Haus“ nahm er verwahrloste Kinder auf. Sie sollten dort befähigt werden, ihren Platz im Leben zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Dieses „Rettungshaus“ war sein „Modell von Kirche“. Hier versuchte er, den „[…] in der Liebe tätigen Glauben zu leben und das Evangelium durch soziales Tun zu vermitteln“. Sein dort erstmals umgesetztes Familienprinzip, die Betreuung der gefährdeten Jugendlichen in familienähnlichen Gruppen, erwies sich als pädagogisch revolutionäre Idee. In der Jungenanstalt lebten jeweils zehn bis zwölf Zöglinge in einer familienähnlichen Gruppe mit einem Betreuer zusammen, der ihnen wie ein großer Bruder zur Seite stehen sollte. Die Betreuer bildete Wichern zu Armenerziehern aus. Seine Gehilfenausbildung gilt heute als Wiege der modernen Sozialarbeiterausbildung.

Später kam noch eine Mädchenanstalt dazu. Alle Mädchen erhielten wie die Jungen regelmäßigen Schulunterricht und wurden zu Dienstmädchen ausgebildet, die Jungen wurden auf  eine handwerkliche Lehre vorbereitet. Im Jahre 1842 entstanden  die Druckerei und der Verlag „Agentur des Rauhen Hauses“.

Die wirtschaftliche Situation im Solling zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts

Immer wieder gab es in der Sollingregion Zeiten, in denen wegen der spürbaren Verschlechterung der Lebensverhältnisse der land- und besitzlosen Dorfbewohner die Armut und besonders die Kinderarmut bedrückende Ausmaße annahmen. Nach dem Siebenjährigen Krieg und den Befreiungskriegen  hatten die Kontributionen und unerschwinglich hohen Forderungen der Besatzung – und durchziehenden Truppen das  Land ausbluten lassen und hohe Schulden hinterlassen. Die beständige Zunahme der Bevölkerung seit 1770 – zwischen 1821 und 1848 allein um 21 % – führte zu einem Anwachsen der unter – und außerbäuerlichen Bevölkerungsschichten wie Kleinkötner und Häuslinge.

Infolge zahlreicher Missernten waren zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Erträge aus  der Landwirtschaft, besonders aber aus dem Getreide-,  Flachs- und Hülsenfrüchteanbau um fast die Hälfte zurückgegangen. Da die Böden nicht fruchtbar genug waren, um die wachsende Bevölkerung ausreichend zu ernähren, waren die Betroffenen zunehmend auf einen außerlandwirtschaftlichen Nebenerwerb angewiesen.

Die Menschen aßen, was ihnen essbar schien, um ihren  Hunger zu stillen. Kartoffeln waren besonders beliebt, sie wurden gegessen, ohne zu hinterfragen, ob sie gesund oder krank  waren. Selbst das tägliche Zubereiten der kargen Mahlzeiten und das Beheizen der Häuser  gestalteten sich schwierig, da die Forstverwaltung das Sammeln von Brennholz im Wald stark eingeschränkt hatte.

Es ist kaum verwunderlich, dass unter diesen Lebensbedingungen  Diebstähle von Nahrungsmitteln und Holz, Pferderaub und Wilddieberei an der Tagesordnung waren.

Ein Schreiben des Amtes Uslar aus dem Jahre 1836  an die Landdrostei Hildesheim beschreibt die Lage der Menschen  besonders eindrücklich: „Das Amt besitzt nicht genügend Mittel, um in den Fällen, wo Hilfe durch wirkliche Not geboten ist, helfend auftreten zu können. Wie sehr oft dieses der Fall ist und wie beschränkt die Mittel sind, woraus Hilfe genommen werden soll und muss, ist jedem zu bekannt, welcher auch nur kurze Zeit im Solling verweilet hat.“

Im Jahre 1839 wurde im Amt Uslar eine Armenordnung aufgestellt, die die Gründung von Armenkommissionen in allen Dörfern vorsah. Ihre Mitglieder, vor allem Pfarrer, Lehrer und Vorsteher, waren für die Verteilung der Armenmittel und für die Betreuung der Hilfsbedürftigen zuständig. Die Armenkasse sollte aus kirchlichen Armenmitteln, aufkommenden Einzugsmitteln, aus Musikgeldern, aus Strafgeldern und öffentlichen Mitteln des Amtes finanziert werden.

Die Bestimmungen sahen im Einzelnen vor, mit den eingehenden Mitteln

  • die ärztliche Versorgung der Bedürftigen zu sichern und die benötigten Medikamente bereitzustellen
  • Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu finanzieren
  • Bargeld nur in Ausnahmefällen auszuzahlen
  • mittellose Waisen und alte gebrechliche Menschen ohne Verwandte in Heimen

unterzubringen

Der Lehrer Heinrich Geyer nimmt herumstreunende Kinder in seine Familie auf

Im Jahre 1840 kam Heinrich Geyer nach Dinkelhausen bei Uslar, um seinen Dienst als Schullehrer anzutreten. Ich gehe davon aus, dass er sich bereits vor seiner Versetzung nach Dinkelhausen mit den Schriften Wicherns zur sozialen Lage der Kinder und Jugendlichen befasst hatte und von der Existenz des Rauhen Hauses wusste.

Bereits kurz nach seiner Versetzung  nahmen Geyer und seine Frau ein armes verwahrlostes Mädchen von der Straße in ihre kleine Lehrerwohnung auf, um es zu einer tüchtigen Magd auszubilden. Der Schulraum befand sich zu dieser Zeit im Erdgeschoss der Dinkelhäuser Kapelle neben dem Gottesdienstraum, die Lehrerwohnung im oberen Stockwerk. Sie bestand aus vier winzigen, niedrigen Räumen. Einer der Räume – er maß sieben Quadratmeter – war als Unterkunft für die aufgenommenen Kinder vorgesehen.

Bis 1843 nahm Geyer weitere Kinder von der Straße in seine kleine Dienstwohnung auf, überwiegend gegen ein geringes Kostgeld oder bei großer Armut ohne Kostgeld. Angesichts der sich weiter verschlechternden wirtschaftlichen Lage reifte in Geyer der Gedanke heran, eine Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder zu gründen. Auf dem Gebiet des gesamten Königreichs Hannover gab es zu dieser Zeit keine entsprechende Einrichtung, die sich der herumstreunenden und verwahrlosten Kinder annahm. Im August 1843 hatte Geyer bereits drei Mädchen und sechs Jungen  aufgenommen, so dass die Wohnsituation für alle unerträglich geworden war und dringend Abhilfe geschaffen werden musste. „Das beschränkte Zusammenleben in der kleinen Hütte wurde immer bedrückender“ schreibt er in einem Schriftstück. Er sah keine Möglichkeit mehr, in Dinkelhausen die Idee einer Rettungsanstalt zu verwirklichen. Deshalb bemühte er sich um eine Versetzung nach Volpriehausen. Dort stand der ehemalige Kötnerhof Justus Kerls zum Verkauf, der seiner Meinung nach bestens für die geplante Rettungsanstalt  geeignet war.

Die Gründung der „Freiwilligen Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste, arme Kinder“ in Volpriehausen

Im Oktober 1844 erfolgte die lang ersehnte Versetzung Geyers nach Volpriehausen. Seine Dienstwohnung befand sich dort im Schulhaus in der heutigen Schäferei im Hause Conrad neben der Kirche. Das Kerl’sche Ackergut, das er für die Einrichtung der Rettungsanstalt erwerben wollte, lag westlich des Schulhauses und bestand aus zwei getrennt liegenden Wohngebäuden mit zwanzig Morgen Garten- und Ackerland. Der hannoversche Pastor Bödeker half ihm bei der Finanzierung seines Vorhabens, den Kötnerhof   zu kaufen, indem er ihm ein zinsgünstiges Darlehen in Höhe von 837 Goldtalern vermittelte. Dort sollte der Knabenhof eingerichtet werden, der höchstens zwölf Jungen beherbergen sollte, die Mädchen sollten im Schulhaus wohnen.

Geyer wollte so weit wie möglich einen Anstaltscharakter seines Rettungshauses vermeiden. Er wollte vielmehr, wie es Wichern praktizierte, das Familienleben fördern und mit den Kindern eine große Familie bilden. Die Zöglinge sollten freiwillig in die Rettungsanstalt eintreten, wobei die Eltern, soweit sie ausfindig gemacht werden konnten, das volle Sorgerecht und ihre Elternpflichten freiwillig an die aufnehmenden Pflegeeltern übertragen sollten. In die Anstalt sollten nur sittlich verwahrloste Kinder zwischen sechs und siebzehn Jahren aufgenommen werden.

Die ganze Anstalt war auf dem Prinzip der Wohltätigkeit begründet. Es gab keinen Fonds für die Unterhaltung. Alle in der Anstalt Beschäftigten arbeiteten ohne Vergütung nur für Kost und Logis. Der erste Gehilfe Geyers war der Schneidergeselle Heinrich Mühlenbrock, der sich auf seinen Einsatz als christlicher Armenlehrer für deutsche Auswanderer in Amerika vorbereitete.

Anfangs konnte Geyer nur auf sein niedriges Lehrergehalt und auf vereinzelte Spenden zurückgreifen, die er u.a. von der Frau des Amtsassessors von Hinüber in Uslar und vom hannoverschen Kronprinzenpaar erhielt. Seine Bemühungen um die Verbesserung der Situation verwahrloster Kinder wurden offenbar weit über die Region Uslar hinaus wahrgenommen und stießen auf positive Resonanz. Auch durch Eingaben des Amtes Uslar wurden ihm immer wieder Zuwendungen von der Landdrostei Hildesheim und  Zinserleichterungen gewährt.

Das Pflegegeld für die Zöglinge betrug 24 Taler im Jahr. Dieser Pflegesatz war für damalige Verhältnisse schon erheblich zu niedrig angesetzt. In Ausnahmefällen wurden Kinder auch unentgeltlich aufgenommen. Die Ausstattung der Räume war sehr einfach. Sie waren zum Teil mit alten oder in der Anstaltswerkstatt aufgearbeiteten oder hergestellten Möbeln ausgestattet. Die Zöglinge wurden nach ihrer Aufnahme in die Anstalt mit einfacher Leinenkleidung eingekleidet, die von den Mädchen in der Schneiderei hergestellt wurde.

Die Zöglinge

Zwischen 1843 und 1845 hatten Geyer und seine Frau 25 Kinder, dreizehn Jungen und 12 Mädchen, aufgenommen. Zwei der Kinder stammten aus Hannover, die Herkunftsorte der übrigen werden in den Jahresberichten nicht genannt. Ich nehme an, dass sie aus der Region Uslar stammten. Altersmäßig waren sie zwischen acht und achtzehn Jahren. Die Mehrzahl war elternlos oder lebte als Halbwaisen beim Vater. Als Gründe für ihre Einweisung wurden vor allem Stehlen, Betteln und Lügen  genannt. Drei Kinder waren von ihren Eltern eingesperrt, eins sogar von seiner Mutter verkauft worden.img129

In die Jahresberichte der Rettungsanstalt, die seit 1844 erschienen, nahm Geyer immer wieder eindrucksvolle Kurzbiographien einzelner Zöglinge und die Gründe für ihre Aufnahme auf, um die Notwendigkeit seiner Hilfe zu unterstreichen und um weitere Spenden für seine Arbeit zu erbitten.

So berichtet Geyer1844 in seinem ersten Jahresbericht von einem etwa vierzehnjährigen Jungen, der 1843 mit seinem elfjährigen Bruder aufgenommen wurde.  Er war zu klein für sein Alter, unterernährt, sehr empfindlich und schielte. Er stammte aus einer Trinkerfamilie. Sein Vater war an Trunksucht gestorben, seine Mutter war wegen Ehebruchs im Gefängnis. Da er kein regelmäßiges Essen bekommen hatte, hatte er angefangen zu trinken. Mit Betteln und Tanzen verdiente er sich etwas Geld, von dem er sich dann Branntwein, Heringe oder Semmel und Wurst kaufte. Sein jüngerer Bruder wird als großer Bösewicht beschrieben, der lügenhaft, diebisch und ungezogen war.

Die Tätigkeiten der Zöglinge in der Anstalt

Geyer legte bei seinen Zöglingen nicht so viel Wert auf  theoretisches Wissen, sondern mehr auf das „Können und Verwirklichen im praktischen Leben“. Deshalb nahmen sie nur während der ersten Stunde, der Religionsstunde, am täglichen gemeinsamen Schulunterricht mit den anderen Schülern aus dem Dorf teil. Alle weiblichen und männlichen Zöglinge wurden  in den für die Gemeinschaft wichtigen alltäglichen Verrichtungen im Haus unterwiesen und dazu herangezogen, die Räume sauber zu halten, beim Anrichten und Kochen der Mahlzeiten zu helfen und  sich um das Vieh zu kümmern.

Geyers vorrangiges Ziel war, allen Zöglingen ein solides Fundament für ihre berufliche Zukunft mitzugeben. Dabei spielte die Unterweisung in den verschiedenen landwirtschaftlichen Tätigkeiten eine besondere Rolle. Außerdem sollte der Einsatz der Zöglinge in der Landwirtschaft dazu beitragen, dass sich die Anstalt  mit den wichtigsten landwirtschaftlichen Produkten wie Kartoffeln, Gemüse und Obst selbst versorgen konnte. Bei der Auswahl der Mägde und Knechte, die er für die Unterweisung der Zöglinge benötigte, hatte Geyer allerdings keine glückliche Hand. Sie verhielten sich häufig ungeschickt und waren für die Arbeit mit den Zöglingen nicht geeignet, so dass sie immer wieder nach neuen Hilfskräften umsehen musste.  Hinzu kam, dass bei der Übernahme des Ackerguts die Felder in einem sehr schlechten, vernachlässigten Zustand waren und die Unerfahrenheit der neuen Eigentümer bei der Bearbeitung der Böden nur karge Ernten zuließ. Die Arbeitsgeräte waren sehr einfach, größtenteils in der anstaltseigenen Werkstatt hergestellt. Geyer bevorzugte von Anfang an die „Spatenkultur“. Aus pädagogischen und finanziellen Gründen verzichtete er auf den Einsatz  größerer Geräte. Auch Viehwirtschaft wurde auf dem Ackergut  betrieben und eine kleinere Anzahl Kühe,  Schweine, Ziegen, Enten, Gänse und Hühner gehalten.

Neben der landwirtschaftlichen Grundausbildung hatten die Zöglinge auch die Möglichkeit, verschiedene Handwerksberufe zu erlernen. Nach und nach wurden auf dem Gelände der Anstalt eine Schuhmacherwerkstatt, Leinenweberei, Schneiderei, Spinnerei, Buchbinderei und Bäckerei eingerichtet, die  Geyer und seine Gehilfen betreuten. Die Werkstätten  waren vor allem auch für die Deckung des eigenen Bedarfs gedacht.

Der Anteil der Analphabeten in der Bevölkerung war groß. Die verbindliche Schulpflicht war erst 1840 im Königreich Hannover eingeführt worden. Deshalb richtete Geyer eine Hausbücherei in der Anstalt ein. Noch 1848 konnten von 28 Konfirmanden in Volpriehausen nur fünf lesen.

Der Tagesablauf

Der Tagesablauf der Kinder und Jugendlichen sah folgendermaßen aus:

05.00 Uhr: Aufstehen, beten, Betten machen, Schlafzimmer lüften     Die Mädchen arbeiten wechselweise in der Küche, bereiten das Frühstück vor, das  aus  Suppe aus Wasser, Milch und Gerstengrütze bestand. Anschließend versorgen sie das Vieh, machen Handarbeiten, spinnen, nähen und reinigen das Haus.

Die Jungen heizen, fegen und erledigen kleine Hausgeschäfte.

07.00 Uhr: Gemeinsames Frühstück, danach gemeinsame Hausandacht im Schulzimmer, Singen und Lesen in der Bibel

08.00 Uhr: Beginn der Schule. Der Gehilfe nimmt an der ersten Schulstunde, der Religionsstunde teil. Die Pflegekinder nehmen nur an der ersten Unterrichtsstunde teil, da sie wissensmäßig nicht so weit wie die Dorfschulkinder  waren.

09.00 Uhr: Erledigung verschiedener Arbeiten auf dem Ackergut

12.00 Uhr: Mittagessen, meistens aus Kartoffeln und Gemüse bestehend. Zweimal in der Woche gibt es Fleisch. Die Knaben essen im Knabenhaus, die Mädchen in der Schule.

Mittagspause

13.00 Uhr: Erledigung von Handarbeiten

15.00 Uhr: Unterricht für die Kinder und Gehilfen

17.00 Uhr: Abendbrot

18.30 Uhr: Schlafengehen

Gehilfe erledigt schriftliche Arbeiten

22.00 Uhr: Bettruhe für alle

Sonntags findet jeweils eine Hauskonferenz zur Planung des Programms für die kommende Woche statt.

 Das Scheitern der Rettungsanstalt zeichnet sich ab

Der Umzug nach Volpriehausen hatte zwar die bedrückende Enge der Unterkunft in der Kapelle in Dinkelhausen beseitigen können und wenigstens in diesem Bereich die erwartete Entlastung gebracht, doch schon bald zeigten sich neue Schwierigkeiten.

Es schmerzte Geyer sehr, dass die Anstalt  im Dorf ein Fremdkörper geblieben war. Er schreibt dazu in seinem Jahresbericht für das Jahr 1845: „ Die hiesigen Bewohner sehen die Anstalt nicht gerne. Die Mitbenutzung des Schulzimmers für meine Zwecke ist der Gemeinde auch nicht angenehm“. Ich nehme an, dass die ablehnende Haltung der Einwohner wohl mit der Befürchtung zusammenhing, dass  ihre Kinder wegen der starken außerschulischen Belastung Geyers durch die Leitung der Rettungsanstalt schulisch nicht ausreichend versorgt werden.

Geryers Konzept von der Selbstversorgung der Anstalt ging wegen schlechter Ernten  und mangelnder Erfahrung in der Landwirtschaft nicht auf. Hinzu kam, dass die so dringend benötigten Spenden ausblieben. Das war vor allem darauf zurückzuführen, dass sich Geyer trotz ständiger Aufforderungen der Landdrostei Hildesheim und des Amtes Uslar weigerte, genaue Rechenschaft über die eingegangenen Spenden abzugeben. Die früheren Hauptförderer gingen sogar so weit, den Entzug ihrer Spenden öffentlich anzukündigen.

Darüber hinaus wurden bei Inspektionen  der Anstalt Mängel in der Haushaltsführung und in der ärztlichen Betreuung der Zöglinge festgestellt. Geyer unternahm allerdings nur wenig, um diese Mängel  zu beheben. Erst im Jahre 1845 wurde durch Dr. Kirchner aus Hardegsen die ärztliche Versorgung kranker Zöglinge sichergestellt.

Die Landdrostei und das Amt Uslar schlugen schließlich vor, der Rettungsanstalt eine Kommission  an die Spitze zu stellen, da man  eine solche Anstalt nicht als Privatunternehmen führen könnte. Man hielt Geyer zwar für einen guten und erfolgreichen  Pädagogen, zur Leitung dieser Anstalt aber ungeeignet.

Unbeeindruckt hiervon  begann Geyer im Frühjahr 1847  mit dem Neubau eines weiteren Gebäudes, ohne vorher die Finanzierung zu klären. Doch damit  hatte er sich  völlig übernommen. Die Schulden stiegen so dramatisch an,  dass das Amt Uslar und die Landdrostei Hildesheim eine Verwaltungskommission einsetzten, die die  Führung der Anstalt übernehmen und eine Satzung für die Anstalt verfassen sollte.

Im Mai 1847 musste Geyer schließlich die Anstalt an die Kommission verkaufen. Der Vertrag sah vor, dass Geyer seine Kötnerei, die Ländereien, das gesamte Inventar, die Zinslasten und sämtliche Schulden auch für den begonnenen Neubau der Kommission übertragen sollte, ohne irgendeine Vergütung dafür zu erhalten.

Die Schulden betrugen zu diesem Zeitpunkt ungefähr 3000 Taler. Die Kommission versuchte als ersten Schritt zu erreichen, dass der Anstalt die Rechte einer juristischen Person zugestanden wurden. Dies scheiterte jedoch an den hohen Schulden, die niemand übernehmen wollte. Daraufhin löste sich die Kommission wieder auf. Wie aus den erhaltenen Akten hervorgeht, war Geyer zu dieser Zeit immer noch pädagogischer Leiter der Rettungsanstalt. Im Jahre 1849 trat er zu den Irvingianern über, einer Sekte, die von dem Schotten Irving gegründet worden war. Daraufhin bat der Superintendent das Konsistorium in Hannover, Geyer seines Amtes zu entheben, da er die Kinder seiner Anstalt nicht mehr zum kirchlichen Konfirmandenunterricht schickte. Er versuchte vielmehr nur noch, sie in seinem Sinne zu bekehren. Außerdem bat er darum, die Anstalt der Kirche zu unterstellen.

Vom 26.6.1849 ist noch ein Brief Geyers an das Konsistorium erhalten, in dem er zum wiederholten Male voller Verzweiflung über seine finanzielle Lage um die Gewährung eines Gnadengeschenkes bittet. Er beginnt ihn mit den Worten: „Ich würde diesen Brief nicht schreiben, wenn ich nicht wirklich Noth hätte.“ Hinzu kam, dass seine  Frau wiederum mit dem Tod gerungen hatte und viele Schulden aus dem Jahre 1847 noch offen standen. Ihm stand nur noch „[…] abgerissene Dienstkleidung“ zur Verfügung, neue konnte er sich nicht mehr auf Kredit kaufen. Mit den Worten „Die Noth der armen Dorfschullehrer mag wohl nicht zur Hälfte vor die Ohren unserer hohen Landes – Regierung kommen.“, bat Geyer am Ende seines Briefes „[…] nur um einige Taler aus der Landeskasse, um sich neue Kleider kaufen zu können“. Das Konsistorium lehnte auch diesen Antrag ab, da zum 30. September Heinrich Geyers  Entlassung aus dem Schuldienst geplant war.

Mit diesem Schreiben schließt der Briefwechsel. Aus einer anderen Quelle wissen wir noch, dass Geyer Ende 1849 Volpriehausen verlassen hat.

Über das weitere Schicksal der Rettungsanstalt ist nichts bekannt. Ich gehe davon aus, dass sie aufgelöst wurde und die Kinder von Pflegeeltern aufgenommen oder in andere Einrichtungen eingewiesen wurden.

 

Quellen:

HStA Hannover

Hann Des 80 Hildesheim I O, Nr.8401 – 35 Die Rettungsanstalt des Lehrers Geyer

Geyer, Heinrich, Erster Jahresbericht über die freiwillige Rettungsanstalt des Schullehrers H. Geyer zu Volpriehausen, Amts Uslar, für sittlich verwahrloste, arme  Kinder, Einbeck 1845

Geyer, Heinrich, Zweiter Jahresbericht über die Rettungs- Anstalt für sittlich verwahrloste Kinder zu Volpriehausen, Amts Uslar, Hamburg 1846

Hann Des 80 Hildesheim I O , Nr. 8426 Armensachen

Hann 74 Uslar, Nr. 1524 Notstand der Untertanen des hiesigen Amtes

Hann 113 K II, Nr. 3927 Die Rettungsanstalt des Lehrers Geyer

Literatur

Herbst, Detlev, 750 Jahre Volpriehausen, Aus der Geschichte unseres Dorfes, Göttingen 1983

Klasse 5h, OS Uslar, Die Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder in Dinkelhausen und Volpriehausen, Beitrag zum Schülerwettbewerb des Bundespräsidenten 1996/97: „Zur Geschichte des Helfens“, Uslar 1997

Wenzlaff, Undine, Untersuchungen zur Industrialisierung und ihren Auswirkungen am Beispiel des Sollings, Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien, Göttingen 2008

Wetzold, Harald, Dinkelhausen – Das Dorf am Malliehagenbach, Dransfeld 1991

www.rauheshaus.de